Montag, 16. Oktober 2017

Abgetaucht ins Mittelalter

Mittelaltermärkte, Fantasyromane und -verfilmungen, Museen, Dokumentationen und Luther-Specials zum Reformationstag zeugen von einem großen Interesse an circa Tausend Jahren europäischer Geschichte, genannt: "das Mittelalter". Mehr aber als nur ein cooles Setting für Rollenspiele oder als das nerdige Interesse mancher Akademiker bietet das Erforschen dieser Zeit auch Einsichten, die ganz unmittelbar mit unserer aktuellen Lebensgeschichte zu tun haben. (Bildquelle: Sandu Kavah, MPS Hamburg 2017)


Gegenfolien soweit das Auge reicht

Aber zurück zu Frodo, Luther, und anderen Dämonen dieser Zeit. Was ist das Mittelalter überhaupt, und warum interessiert es viele Leute? Die erste Frage kann man getrost ignorieren, denn zu beantworten ist sie nicht. Das Mittelalter ist eine so große Zeitspanne einer so großen geographischen Region, dass man davon ausgehen kann, dass es nichts gibt, das einheitlich dem Mittelalter angehört und dieses in seinem Wesenskern definiert. Sicher, es gab Burgen, Kirchen, viel Dorf, wenig Stadt, noch weniger Adel, fast alle haben geschuftet und alle gestunken, die Hälfte hatte die Pest oder Lepra und die Inquisition hat so ziemlich jeden verbrannt, der versucht hat, logisch zu denken – unterstützt vom abergläubischen Pöbel. Es ist gut bekannt, dass das alles Stereotype sind, die zwar zutrafen, aber doch nicht für die gesamten 1000 Jahre. Das meiste, das man darüber weiß, betrifft doch eher schon das Ende des Mittelalters. Und auch eher Zentraleuropa. Außerhalb dieses Flecken gab es erst recht kein "Mittelalter", denn dort finden sich ganz andere Zäsuren. Kurz gesagt geht man von einer dunkel-düsteren Zeit aus, die mit dem Untergang Roms begann und erst mit dem Aufkeimen der Renaissance endete; denn Rom und die ganze Antike war bekanntlich ebenso wie die Renaissance der Inbegriff von Fortschritt, einzig getoppt natürlich von der Aufklärung und, noch etwas höher, unserer gegenwärtigen, modernen Welt, die quasi schon am Ende der Geschichte angekommen ist. (Oder war das schon bei Hegel? Egal.)

Der gute Adorno
(Bildquelle: Wikicommons)
Oder so ähnlich wird es manchmal angesehen. Untermalt wird dieses Bild mit Worten wie "wir sind doch nicht mehr im Mittelalter!", um eine z.B. nichtwestliche Kultur oder einen ausnahmsweise falsch denkenden Europäer für seinen Aberglauben oder moralischen Verfall zu rügen. Weil es von diesen falschdenkenden Westlern mittlerweile wieder so viele gibt, dass sogar ein genetisch verändertes Meerschweinchen Präsident der USA werden konnte (sorry an alle Meerschweinchen), werden auch die Rufe immer lauter, die Empörung, das Unverständnis: "Aber wir sind doch nicht mehr im Mittelalter! Wie kann es sowas im 21. Jahrhundert immer noch geben?" 

Gute Frage. Dieser Frage sollten wir weiter nachgehen. Weiter, als Adorno es geschafft hat, der ja bekanntlich bereits die Dialektik der Aufklärung, welche in ihr faschistisches Gegenteil mündet, treffend analysiert hat. Aber eins nach dem anderen. Bleiben wir noch kurz bei dem Mittelalter als Alterierungsdiskurs, d.h. als Gegenfolie zur Aufklärung, zur Moderne, als das "ganz andere" gegenüber der heutigen Zeit und heutiger Werte: Denn diese Gegenfolie wird nicht nur unter die Banner des Humanismus geschrieben, sondern findet ebenso kulturkritische, gegenwartsskeptische Anstriche. 

Die mystische Hochzeit.
Hochgefühl so mancher Nonnen und einiger Mönche.
(Bildquelle: Wikicommons)
Während die einen das Mittelalter als Inbegriff des Aberglaubens, der unzulässigen Vermischung von Religion mit weltlicher Macht ansehen, ist es für die anderen (und ich spreche jetzt nicht primär von Christen, denn bei denen ist klar, dass sie um die verloren gegangene "Blüte" ihrer Religion trauern) – ist es für die anderen auch ein Ort von Weisheit und spirituellem Wissen; Dieses Wissen, das von Hexen und Organisationen im Untergrund oder auch vom einfachen, nicht ganz so christlichen und noch irgendwie paganen Bauern in desren Brauchtümern weitergegeben und praktiziert wurde. Die heutige Welt ist entzaubert, so lautet die Diagnose, und natürlich war das Mittelalter voller Zauber; wenn auch nicht voller Gandalf-Sauron-Duelle, so doch zumindest voll Wissen um spirituelle Wesenheiten, die einen im Traum besuchen, die Seele rauben, und, äh, auch manchmal schöne Dinge tun. Wie z.B.... Naja, es gab ja auch die sogenannte "Brautmystik", aber genauer gehe ich darauf nun nicht ein. Einigen wir uns darauf, dass die Mystik in ihrer Blüte stand und auch ansonsten pagane und christlich-spirituelle Weisheiten verbreitet waren und das war ziemlich cool (jedenfalls finden das Manche).

Hierzu ist zu sagen, dass Dinzelbachers Ansatz einer "Psychohistorie" sehr interessant ist, doch er fällt leider weit von seinem Ziel zurück, was wissenschaftliches Arbeiten angeht. Breit angelegte Vergleiche und Interpretationen verschiedener Mystiker machen sein Werk eher zurInspirationsquelle, historische Fakten findet man in vereinzelten Darstellungen, jedoch gemischt mit Mutmaßungen. Das Konzept von "Mystik", das er ausbreitet, ist eine neumoderne Erfindung. Wäre ja nicht so schlimm, wenn er das wenigstens reflektiert hätte. (Döbler zeigt, wo das Problem liegt).

Auch Wertkonservative und andere Kulturkritiker, die irgendwie "postmoderne Einsamkeit" empfinden, schätzen am Mittelalter durchaus diese heute verlorengegangenen Werte, wie man sie auf dem Dorf angeblich vorfand: Die Gemeinsamkeit. Und die klare Lebensstrukturierung. Alles war so einfach, und man war nicht so entfremdet. Nicht so technisiert und bürokratisiert alles. Verloren geglaubte Natürlichkeit, am warmen Herd der Familie. Auch wenn der manchmal etwas ungemütlich war. Und dreckig. Und eng. Vor allem für Frauen. Naja, Details. 

Im Alterierungsdiskurs zählen die Fakten viel weniger als die Idee, Details interessieren nicht, es geht um die Aussage. Die Idee ist, je nachdem, was man gerade aussagen möchte, immer eine solche, die wir zurück auf die Gegenwart beziehen: So wie damals, so sollte es eigentlich sein; oder nie wieder werden. 

Die historisch-kritisch-intuitiv-psychologische Methode, oder so

Tut man damit nicht den Leuten unrecht? Ich meine, wenn man es nicht differenzierter betrachtet, wie sie eigentlich wirklich gelebt haben? - Aber die Leute leben ja nicht mehr, wie kann man ihnen also Unrecht tun? - Und tun wir dann nicht uns selber unrecht, unserem Erbe, unserer Geschichte?

Hexenprozesse
(Bildquelle: Wikicommons)
Vor allem die Aufklärer und Humanisten werden ein Problem damit haben, das Mittelalter als Alterierungsdiskurs zu verwenden. Immerhin stehen sie ja für Wissenschaft. Also auch in der Geschichtsschreibung. Und viele Wissenschaftler finden es witzig, wie irgendwelche Esoteriker so einen Mythos aus dem Mittelalter bauen. Z.B. die angeblichen Hexenverfolgungen – die gab es doch erst in der Neuzeit, nicht im Mittelalter. Und das waren auch viel weniger, als es immer behauptet wird. Und die Inquisition war auch nicht hauptschuld, sondern die Dorfbewohner klagten sich gegenseitig an und wollten einander gerne brennen sehen – v.a. das hübsche 14jährige Mädchen, das die nächtliche Umarmung verweigerte und außerdem rote Haare hatte.

Aber eigentlich ist die Quintessenz der wissenschaftlichen Historie meistens ganz langweilig: Wir haben so wenig Informationen, und in die Köpfe der Menschen können wir auch nicht gucken. Also sind alle Vermutungen über z.B. eine im Untergrund lebende Hexenreligion oder einen Meister Eckhart, der mystische Erfahrungen hatte, reine Spekulation. Wir können ja fast nichts darüber aussagen. Und diese Langeweile wird dann in wissenschftlichen Papern zelebriert (mit Ausnahmen!). Spekulationen werden verboten, psychologische Deutungen ignoriert, was-wäre-wenn-Fragen belächelt. 

Die legendäre Päpstin Johanna
(Bildquelle: Wikicommons)
Dem gegenüber stehen dann "alternative Archäologen" wie z.B. die neopagane Hexe Z. Budapest, oder ein kulturübergreifender Vergleich durch alternative Akademiker wie H.-P. Dürr oder M. Eliade, die als Informationsquelle über die Vergangenheit lieber ihre Intuition und Vorstellungsgabe sehen, als die wissenschaftliche Analyse von gegebenen Fakten. Ist der Ansatz besser? Er ist auf jeden Fall gefährlicher, denn natürlich kann man mittels Vorstellungsgabe alles in alles interpretieren und das wurde nicht nur zur Zeit der Romantik, sondern auch in der Gegenwart, getan – mit den bekannten nazistischen und stalinistischen Folgen. Eine Art der mythologischen Geschichtsforschung hat aber neben all der Kritikwürdigkeit auch Vorzüge. 

Es geht ja auch um Inspiration. Wir wollen etwas aus der Geschichte lernen, was eher gelingt, wenn sie nicht langweilig ist. Wenn klar ist, dass es nicht "die Geschichte", sondern "eine Geschichte", eine Erzählung, eben Fantasy ist, - aber Fantasy, das an die erforschbare Geschichte angelehnt ist, das daher seine historische Plausibilität gar nicht so weit einbüßen muss: Ein "was wäre wenn", wie es D.W. Cross in "Die Päpstin" z.B. erzählt. Auch neopagane Hexen wie Starhawk sprechen ganz bewusst von einem Mythos der Hexenreligion zur Zeit des Mittelalters – die Message dieses Mythos zur Befreiung vom Patriarchat ist das, worauf es ihnen ankommt, nicht ihre Belegbarkeit durch Fakten.

Trotzdem ist es wichtig, die Fakten von den Mythen und das Gesicherte vom Spekulativen unterscheiden zu können. Wenn ich gute wissenschaftliche Arbeit machen will, kann ich doch kenntlich machen, wo ich beginne, zu spekulieren, und worauf sich meine Spekulationen begründen. Man weiß natürlich nicht, was gewesen wäre, wenn Luther nicht existierte, und man weiß auch nicht, was in den Köpfen der Bauern vor sich ging, die im 15.-16. Jh. gegen die Herrschenden aufbegehrten und Luthers Unterstützung verwehrt bekamen. 

Das "lustige" Bauernleben, das manchmal so romantisiert wird
(Bildquelle: Wikicommons)
Doch warum es nicht wagen, sich kurz in diese Situation hineinzuversetzen und psychologisch fundierte Vermutungen zu äußern? Wenn die Bauern in ihren 12 Artikeln gegen die Herrscher schon direkt an Reformatoren appellierten, sie mögen ihre Artikel auf theologische Richtigkeit hin beurteilen – denn sie sahen die Reformation als große Chance zur Gleichheit aller Christen auf auch Erden – und wenn Luther stattdessen erklärte, dass die Bauern wie ungezogene Kinder seien und einige ihrer Unterstützer sogar als den wahrhaften Antichristen hinstellte, schließlich sogar dazu aufrief, sie allesamt brutal niederzunetzeln – ist es dann nicht naheliegend, dass sich einige von ihnen verraten und entmutigt fühlten? Ist es nicht möglich, dass Luthers Stimme gegenüber manchen Fürsten durchaus Gewicht hatte? Hatte er nicht Mitschuld am fürchterlichen Ausgang des Bauernkriegs?

Aber reden wir doch nicht davon. Nicht im schicken Jahr der Reformation. Luther war ja ansonsten auch ein feiner, apokalyptisch-paranoider fortschrittlich denkender Antisemit Kritiker seiner Zeit. Stimmt ja auch. Aber nicht nur.

Mittelalter in der Postmoderne

Und, macht Mittelalter nicht Spaß? Also natürlich nur in der Retrospektive... Man lernt vieles daraus, sowohl aus den interessanten Mythen wie aus den interessanten Fakten, aber wir haben immer noch nicht die Frage beantwortet, wie es nun mit dem Fortschritt oder Rückschritt steht. Warum unsere Zeitgenossen (alle außer uns natürlich) immer noch so mittelalterlich denken. Diese Frage ist dann auch der persönliche Bezug, den wir zum Thema Mittelalter gewinnen können: Wir können auch noch mehr Psychologisches daraus lernen.

Meine Ahnentafel sah zwar nicht so schick aus,
aber war dafür auch umfangreicher
(Bildquelle: Wikicommons)
Stellen wir uns doch einfach mal vor: Diese Leute, die da z.B. im Gemetzel der Bauernkriege in Schwaben, im Allgäu, in Oberfranken, im Elsass usw. überlebten, waren meist unsere Vorfahren. Besonders krass fand ich diese Erkenntnis, als ich eine Ahnentafel angelegt hatte, und, tatsächlich, über eine meiner Urgroßmütter kam ich über eine Onlineseite zur Ahnenforschung weiter zurück in die Vergangenheit. Generation um Generation tiefer in die Jahrhunderte konnte ich vordringen, tausende von Namen, die mir alle nichts sagten, die aber doch einen Teil meiner Linie ausmachten – nicht nur einer Bluts- sondern v.a. einer Prägungslinie. Zugegeben, es ging nicht tief ins Mittelalter, weil es da erst spät Aufzeichnungen von Geburten gab, aber immerhin bis ins 14. Jahrhundert. Und da sah ich sie: Wie sie über Generationen hinweg im selben Dorf lebten, den selben Beruf ausübten, teilweise die Großcousine heirateten, und fast alles waren Bauern: Meine Ahnen!

Hat so eine Lebensweise nicht einen bleibenden Eindruck, auch für uns heute? Man kann es vielleicht erahnen. Die ganzen Kriege, die Knappheit der häuslichen Mittel, die Frömmigkeit, die starren gesellschaftlichen Regeln, die Angst vor Dämonen und Ketzern. Kommt davon einem nichts bekannt vor? Schlummert da nicht irgend etwas? Sicher, wir erklären die Angst unserer Oma, die den Rolladen immer unten haben muss, mit den Erlebnissen vom 2. Weltkrieg. Aber geht es nicht tiefer? Auch in der Frage, wie es überhaupt zu Nazideutschland kommen konnte. Der Antisemitismus, die Hörigkeit, die Dummheit, die Wut und Kriegstreiberei. Das sitzt tief, und es ist immer spannend, sich zu vergegenwärtigen, dass die Geschichte nicht von irgendwelchen Leuten gemacht wurde, sondern von unseren ganz persönlichen Ururururur-...urgroßeltern, -großtanten, -großgroßcousins, usw. Je weiter zurück man geht, umso mehr Leute, die gleichzeitig lebten, sind mit einem "direkt" verwandt! Gäbe es nur einen einzigen davon nicht, wäre man jetzt nicht am Leben. Aber das ist eine andere Geschichte.

Ist es also wirklich so, dass das Mittelalter vorbei ist? War es jemals vorbei? Gab es die Aufklärung wirklich? Klar, es gab sie, aber war sie nicht eher ein Gespenst? Ein Ideal? Ein Wunschtraum? Vielleicht haben wir einigen Aberglauben abgelegt, und der technische Fortschritt hat auch die Bildung, die Perspektive, die Freiheit ungemein vergrößert. Aber man betrachte doch einmal, was von einer Generation unweigerlich an die nächste weitergegeben wird. Die Hörigkeit, die von Kindern gegenüber ihren Eltern nach wie vor eingefordert wird, die emotionale Vernachlässigung, die intellektuelle Vernachlässigung, der empathische Umgang mit Ängsten und Wut, der nicht beigebracht wird, das alles ist doch immer noch Standard; auch wenn es sich nicht mehr geziemt, Babys wegen ihres Geschlechts im Stroh verhungern zu lassen. Wir haben ja sogar die Prügelstrafe verboten! Welche Zivilisation hat es soweit gebracht? Zumindest steht es im Gesetz. Das müsste dann ja auch reichen? Über die Bedeutung von kränkenden Blicken und gehässigen Tonfällen, von emotionaler Kälte in der Kindheit, davon weiß doch fast keiner was. Das wird schon nicht so schlimm sein. Das betrifft nur die psychisch Kranken, die Ausnahmefälle. Nicht wahr?

Grüße von den Orcs. Eigentlich sind sie doch ganz lieb.
(Bildquelle: Sandu Kavah, MPS 2017)
Die systematische Dummheit schlägt eben auch die Schlauesten unter uns, wenn wir nicht begreifen können, wieso in unserer heutigen Zeit noch so viel Mittelalter existiert. Wir haben einfach dem Mythos der Aufklärung geglaubt. Doch die dunkle Zeit existiert in uns allen. Ist es nicht auch das, was uns Gollum gelehrt hat? Insofern: lasst uns vom Mittelalter lernen, was auch immer es genau war. Lasst uns weg von den langweiligen Fakten und den wahnwiztigen Verdrehungen der Fakten. Lasst uns auf psychologische Spurensuche in den Tiefen der Zeit gehen. Und wenn ihr was findet, schreibt doch gerne darüber.



Ein paar interessante Referenzen:


  • Ohne Verfasser: Die Zwölf Artikel, in: Flugschriften der Bauernkriegszeit (Hg: A. Laube)
  • Luther, M.: Ermahnung zum Frieden auf die zwölf Artikel der Bauernschaft
  • Luther, M.: Wider die räuberischen und mörderischen Rotten der Bauern
  • Hutton, R.: The Triumph of the Moon. A History of modern pagan Witchcraft
  • Dinzelbacher, P.: Deutsche und niederländische Mystik des Mittelalters. 
  • Döbler, M.: Die Mystik und die Sinne. Eine religionshistorische Untersuchung am Beispiel Bernhards von Clairvaux
  • Budapest, Z.: The Holy Book of Women's Mysteries
  • Starhawk: The Spiral Dance