Sonntag, 26. Februar 2017

Zwänge - ausleben oder unterdrücken?


Die Schwere, die wir tragen
(Titian: Sisyphus)
Wir schelten uns gerne oder haben ein schlechtes Gewissen für all die vermeintlichen Laster, die wir herumtragen. Für unsere Abhängigkeiten, Süchte, Zwänge, unsere Schwächen und schwachen Momente – was wir auch immer darunter begreifen. Wir schämen uns für unsere Medien-"sucht", wollen unseren "übermäßigen" Konsum reglementieren, unsere "Faulheit" überwinden, wir fühlen uns schuldig für "dumme" oder "kranke" Gedanken, die wir doch nicht unterbinden können; wir meinen: Wir müssen fasten, verzichten, büßen, uns vielleicht bestrafen, nach strengen Regeln leben, wir machen uns Vorsätze, die nicht helfen, wir verfallen zurück ins alte Muster und fühlen uns wieder schlecht.

Dann, manchmal, regt uns die ganze Moral dahinter auf und wir rebellieren absichtlich durch trotziges, manchmal dummes Verhalten. Der Schlankheitswahn, die Prüderie der Gesellschaft, die Scheinheiligkeit der Nächstenliebe, der ganze Leistungsdruck – wir sind bockig und wollen den Exzess dessen, was uns doch schon immer zustehe. Wir glauben, wir haben die Vernunft mit ihrer Herrschaft besiegt und es lebe das wahre, chaotische ES in uns auf. Das halten wir ebenso kurz nur aus, es beginnt uns zu gruseln, das Chaos, die Unvernunft, - der Untergang? Wir fühlen uns wieder schlecht, noch schlechter vielleicht als vorher, denn wir meinen, wir sind abgestürzt.

Wir sind hin und her gerissen; zwischen Moral und Trotz; zwischen Schelte und Gegenschelte; zwischen Unterdrückung und Ausleben. Was sollen wir also tun? Wie geht man damit um? Und ist der Zwiespalt tatsächlich einer zwischen Vernunft und Trieben? Ja zwischen Gut und Böse? Zwischen Zivilisation und Barbarei?


Der Zwang zur Unterdrückung des Zwangs

A: "Aber es schadet uns ja wirklich! Ständig am PC zu sitzen, ständig Schokolade zu essen, ständig sich mit Alkohol zuzuschütten, ständig Pornos gucken, ständig schlechte Beziehungen eingehen, ständig unproduktiv zu sein, ständig drinnen zu sein, ständig draußen zu sein, ständig ..."

- Ja! Manchmal schädigt uns ein Zwang. Aber immer? Und was rechtfertigt das? Dass wir uns zur Strafe noch mehr schädigen?

A: "Aber das zeigt doch, dass wir eine Reglementierung brauchen! Ohne die läuft alles aus dem Ruder! Wir gehen unter, wir steuern auf einen Abgrund zu. Klar, es ist nicht schön, aber wir lernen ja nicht anders als durch die harte Hand. Und haben wir es letztlich nicht sogar verdient?"

Moralische Geißelung
(Gioacchino Assereto:
The Torture of Prometheus)
- Doch das ist falsch, grundfalsch. Nichts daran haben wir verdient.

B: "Genau! Der eigentliche Schaden liegt doch in der Selbstgeißelung! Sind wir etwa immer noch im Mittelalter, regiert die Moral im Zeitalter der Vernunft wie ein richtender Gott über uns? Unsere Triebe machen uns aus, wir können unsere Natur nicht verleugnen. Klar, manchmal tun wir dumme Dinge, manchmal sind wir egoistisch, aber was nutzt es, unsere Natur zu verleugnen?"

- Aber es ist keine Irrationalität, was in uns liegt. Die große Unvernunft erfasst beide Parteien: Es wird wild und ohne groß darüber sich jemals zu besinnen, ein Impuls ausgelebt – es ist gleichgültig, um welchen es sich dabei handelt. Sei es der Impuls eines vermeintlichen Zwanges oder der seiner Bestrafung. Die Ratio findet ihren Eingang hier nur in Form von Rechtfertigungsstrategien für etwas, das sich nicht rechtfertigen lässt.

Am Ende kommen wir dahin, dass wir auch unsere Selbstgeißelung wieder unterdrücken wollen, da wir erkennen: sie nutzt zwar die Form der Vernunft, agiert aber eigenständig, genau wie ein Zwang, der Zwang zur Selbstbestrafung. Ein Automatismus. Das Paradox entsteht nun, dass wir uns für unsere Schelte schelten wollen, dass wir sowohl Konsumsucht wie auch Fastensucht bekämpfen müssen, dass wir die negativen Gedanken nur mit anderen negativen Gedanken zu stoppen versuchen, und auch diese beenden müssen – es muss alles weg – das Paradox wird unaushaltbar.


Die liebevolle Reflexion

Was hilft? Was hilft das ganze Selbstgeißeln, was hilft das bloße Ausleben von Impulsen? Was hilft, wenn beides nicht mehr hilft, wenn eine Wahl zwischen ihnen wie die Wahl zwischen zwei gleichwertigen Übeln erscheint und wir orientierungslos zurückbleiben?

Reflexion der Impulse. Reflexion, während wir ausleben, Reflexion, während wir unterbinden. Und danach natürlich. Wenn eines in diesem ganzen Kreislauf das Problem ist, dann doch die Unreflektiertheit des gesamten Vorgangs. Man therapiert sich nicht, indem man seine Neigungen unterdrückt, man therapiert sich auch nicht, indem man sie blind auslebt. Niemandem hilft die Selbstgeißelung, das schlechte Gewissen, die Moral. Aber es hilft auch niemandem der wahnhafte Trotz.

Was schadet uns?
(Kamil Antosiewicz Monika Powalisz)
Wo ein Schaden festzustellen ist, da muss der Schaden anerkannt werden. Was schadet es aber wirklich, den ganzen Tag Fernzusehen? Worin besteht der tatsächliche Schaden, wild durch die Gegend zu vögeln? Was ist das wirkliche Problem daran, sich täglich eine Tafel Schokolade reinzupfeifen? Was für ein Schaden entsteht durch exzessive Kleptomanie? Ist es wirklich ein Schaden, ist es wirklich meine Schuld, wenn ich der Tante den Geburtstagsbesuch verweigere und sie dadurch gekränkt ist? Es gibt Schäden – aber nicht bei allem, was vermeintlichen Schaden bringt. Den wahren Schaden festzustellen und ihn vom eingebildeten Schaden zu unterscheiden, den das moralisierende Denken vorgibt, ist das erste große Problem. Die erste große Aufgabe – keine einfache Aufgabe, eine mühselige, langsame Untersuchung, die aber notwendig ist, um zur Wurzel vorzudringen.

Grundsätzliche Voraussetzung ist in dieser Reflexion die Hinterfragung aller Autoritäten. Wir müssen selber denken, selber entscheiden lernen. Und "unsere Gedanken" sind nicht einfach unsere Gedanken. Wir haben sie übernommen durch Erziehung, durch jahrzehntelange Sozialisation, durch Moral, durch Medien, durch die Schule, durch unsere Freunde, und v.a. - durch unsere nächsten Bezugspersonen, durch unsere Eltern. In unserem Kopf muss an die Stelle der strikten moralischen Regeln ein neuer Maßstab kommen und dieser muss aus uns selber kommen – aus unserem Innern, denn wo sonst sollte man ihn her holen? Wir müssen also zunächst lernen, selbst Schäden und Gefahren abzuschätzen. Und natürlich auch recherchieren. Kritisch recherchieren. Denn die Fakten und die Fähigkeit, vertrauenswürdige Fakten einzuschätzen, benötigen wir auch.

Als zweites kommt die Frage: Wenn und insofern etwas wirklich schadet – was ist die logische, pragmatische Konsequenz daraus? Was hilft? Wenn wir schon sahen, wie wenig Vorsätze und Reglementierungen uns helfen, wieso weiter darauf reinfallen? Wieso nicht etwas neues versuchen? Und wem zur Hölle soll es helfen, sich selbst nieder zu machen, sich schlecht zu reden, sich zu bestrafen, einfach nur sich zu bestrafen, in der Reue zu leben? Wen motiviert so etwas? Und wozu motiviert es einen? Eine "reumütige Erkenntnis" ist gar keine Erkenntnis. Sie ist Anpassung. Das Kind knickt ein, gibt den großen Eltern nach, zeigt sich unterwürfig – es ist eine letzte Strategie, um zu überleben. Es ist keine Erkenntnis aus eigenem Herzen. Das gescholtene Kind erkennt nicht, dass Egoismus schlecht ist, es entscheidet sich, zu denken, dass Egoismus schlecht sei, weil die Eltern es verlangen.

Also, was ist eine fruchtbare Konsequenz, die man aus einem schädigenden Verhalten zieht? Wir müssen uns diese Frage zunächst auf der Zunge zergehen lassen. Sie fragt nicht danach, wie man jemanden am besten bestraft, auch nicht, wie man einen am besten erzieht. Es ist keine moralisierende Frage, sondern eine liebevolle. Ganz recht: Es geht darum, sich selbst liebevoll zu behandeln, und dazu gehört unter anderem, sich zu helfen. "Komm, wir versuchen, das Problem gemeinsam zu lösen. Ich sehe, du leidest unter den Zwängen und auch unter dem schlechten Gewissen. Gegen beides müssen wir Lösungen finden." Es hilft zumindest, sich selbst dabei so zuzureden. Eine innere Instanz zu etablieren, die wahrhaft auf der Seite des inneren Kindes steht.


Sich Raum für Tiefe schaffen

Vielleicht ein paar praktische Tipps, am Ende? Wenn man sich etwas vornimmt, wie z.B. einen Zeitplan, dann kann das zwar helfen, aber es erzeugt oft auch enormen Druck und ein schlechtes Gefühl. Besser finde ich, seine Möglichkeiten zu verändern. Indem man sich z.B. Hürden schafft, damit man nicht aus Gewohnheit und ganz automatisch zur Packung Chips oder auf den TV oder sonstwas zugreifen kann, sondern es jedes mal eine bewusste Entscheidung und ein aufwendiger Akt sein muss. Das verhindert nicht, dass man danach greifen wird, und das muss es auch vielleicht gar nicht (das kommt natürlich auf den Fall an). Man wird es jedenfalls bewusster tun und wahrscheinlich auch weniger häufig. Und die Bewusstheit ist, wie eben argumentiert, ja ein Schlüssel zur Veränderung.

Raum für z.B. Kreatives
(Maxpixel)
Man kann sich auch Alternativen bereitstellen, die leichter zugänglich sind. Wenn der PC standardmäßig aus ist und erst eingeschaltet werden muss, ist es leichter, etwas zu zeichnen, sobald Blatt und Stift griffbereit immer vor einem liegen. Grundsätzlich helfen natürlich alle Dinge, die Bewusstsein in das Dunkel bringen. Die verstehen lassen, was man eigentlich für ein Problem hat. Wie diese Zwänge entstanden sind, wie die Schelte entstanden sind, und die eine Neubewertung ermöglichen. Häufig ist dazu Hilfe anderer besonders wichtig. Man sollte sie sich wirklich suchen. Wenn es nicht anders geht, muss man sich selbst helfen lernen. Z.B. mithilfe der inneren liebevollen Instanz, die man selber ist. Und indem man sich Zeit und Gelegenheiten nimmt, um reflektieren zu können.

Glaubensbilder und Phantasien, die unseren Impulsen zugrunde liegen, wollen ergründet werden. Manchmal hilft dazu Abstinenz, denn ein Entzug kann Gefühle in uns wachrufen, die wir mit genügend Reflexion zu Erkenntnissen umwandeln können. Manchmal hilft auch das einfache, vorsichtige, Ausleben. Wichtig ist auch hier, es zumindest später zu reflektieren: Was hab ich dabei gefühlt? Was habe ich mir damit erhofft? Wie zufriedenstellend wurde meine Hoffnung erfüllt? Und, weil uns Süchte meist nicht zufrieden stellen, wäre noch zu fragen: Wonach sehne ich mich im Inneren eigentlich, und was müsste anderes ich tun, um diesen Wunsch erfüllen zu können?

Mehr zu Möglichkeiten des inneren Wachstums werde ich noch in anderen Artikeln besprechen.

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